Alters-Serie

Pflegenotstand: „Ein Pfleger kümmert sich um 52 Senioren“

| Lesedauer: 10 Minuten
Die Professorin Christel Bienstein von der Universität Witten/Herdecke

Die Professorin Christel Bienstein von der Universität Witten/Herdecke

Foto: Ralf Rottmann

Witten/Herdecke.   Christel Bienstein gehört zu den besten Pflege-Experten Deutschlands. Ein Interview über miese Arbeitsbedingungen und einen Masterplan.

Christel Bienstein gehört ohne Zweifel zu den besten Pflege-Experten, mit denen man in Deutschland sprechen kann. Die 65-jährige Professorin hat vor 21 Jahre dafür gesorgt, dass Pflege eine Wissenschaft wurde und den ersten Studiengang dieser Art an der Universität Witten-Herdecke aufgebaut. Zurzeit leitet sie noch kommissarisch das Departement Pflegewissenschaft. Altenheime mit ihren festen Tagesabläufen und starren Regeln sind ihr ein Gräuel. Diese Zeitung hat sich mit ihr über den Pflegenotstand von Senioren in Deutschland unterhalten, über miese Arbeitsbedingungen des Pflegefachpersonals und einem Masterplan, der die Dauerkrise beenden soll.

Warum sinkt die Qualität der Altenpflege in Deutschland?

Christel Bienstein: Das muss man differenziert betrachten. Auf der einen Seite sind die Möglichkeiten der Behandlung von Pflegebedürftigen angesichts des technischen Fortschritts gestiegen. Andererseits fehlt schlichtweg Personal in der Altenpflege. Im Durchschnitt kümmert sich laut unserer Nachtwachenstudie in einem Altenheim eine Pflegekraft um 52 Senioren. In Kliniken beträgt das Verhältnis 1 zu 28. Eine Sterbebegleitung, so wie sie sein sollte, ist nicht mehr möglich. Fatal, denn mehr als 50 Prozent der Bundesbürger sterben in Kliniken.

In den letzten 15 Jahren ist die Zahl des Pflegepersonals um zehn Prozent gesunken. Welche Auswirkungen hat das?

Die zunehmende Arbeitsverdichtung und der mit einhergehende Stress, den Unterbesetzung in Altenheimen und Kliniken mit sich bringen, führt dazu, dass sich immer mehr zurückziehen. In den Altenheimen liegt der Anteil der Teilzeitstellen bei 70 Prozent, in den Krankenhäusern sind es 50 Prozent. Im Vergleich zu anderen Unternehmen ist das ein sehr hoher Anteil. Durch Unterbesetzung arbeiten viele ständig am Limit, die psychische Belastung steigt. Das Pflegepersonal spürt die enorme Verantwortung. Die gehen mit den Gedanken nach dem Dienst nach Hause, dass sie eigentlich nicht das geleistet haben, was sie hätten leisten müssen.

Gibt es weitere Gründe für die mangelnde Attraktivität in der Altenpflege?

Es liegt natürlich auch an der schlechten Bezahlung: Als Altenpfleger kann man allein seine Familie nicht ernähren. Ein Altenpfleger verdient im Durchschnitt rund 1000 Euro weniger als ein Krankenpfleger. Hinzu kommt, dass hierzulande das qualifizierte Altenpflegepersonal sehr oft nicht selbstverantwortlich arbeiten darf. Meistens müssen Mediziner eingeschaltet werden. Es gibt eine Dissens mit den Medizinern. Ein typisch deutschsprachiger Konflikt. In Schweden oder Finnland gibt es solche Probleme nicht. Wäre das bei uns anders, könnten Arbeitsprozesse entzerrt werden.

Pflegeforscher des Deutschen Institutes für angewandte Pflegeforschung haben einen dreischrittigen Masterplan aufgestellt, um die Dauerkrise zu beenden...

... und die Forderung an die neue Regierung ist der erste Schritt in die richtige Richtung. Ziel des Masterplans ist, die Vergütung des Pflegepersonals vor allem in der Altenpflege um bis zu 30 Prozent anzuheben. Bis zum Ende der Legislaturperiode sollen auch 100 000 Stellen in Altenheimen, Krankenhäusern und ambulanten Diensten geschaffen werden. Zusätzlich sollen 12 Milliarden Euro für Forschung, Innovation und hochschulische Pflegeausbildung bereitgestellt werden. Das Geld soll solidarisch über die Kranken- und Pflegeversicherung bzw. zusätzliche Steuermittel aufgebracht werden. Was uns zurzeit fehlt, sind verlässliche Daten. Erst wenn wir wissen, wo Altenpfleger dringend gebraucht werden, kann man zum Beispiel einen Personalschlüssel für den ambulanten Pflegedienst erstellen. Krankenhäuser, vor allem privat geführte, werden von den zusätzlich aufkommenden Kosten nicht angetan sein. An einer Aufstockung des Altenpflegepersonals kommen wir nicht vorbei. Das zeigen auch die 50 Todesfälle in Altenheimen im Zeitraum zwischen 2012 - 2014 durch Selbststrangulation fixierter, oft dementer Senioren. Mit mehr Personal kann Leben gerettet werden.

Funktioniert die Altenpflege in anderen Ländern besser?

Musterländer sind Finnland und Schweden. In Deutschland versorgt eine Pflegerin in einem Krankenhaus pro Schicht 13 Patienten, in den Niederlanden sind es 5,5 in Schweden und Norwegen 4,4 Patienten. In Norwegen liegt die Verweildauer im Krankenhaus bei durchschnittlich 4,3 Tage, in Schweden und Finnland sind es fünf Tage. Die skandinavischen Länder haben etwas wirklich Tolles: spezialisierte Pflegedienste. Zum Beispiel für Betroffene von Schlaganfällen. In Deutschland müssen sich die Pflegedienste um alles kümmern. Da ist nur die Palliativversorgung eine positive Ausnahme.

  Pflegegrad 1 Pflegegrad 2 Pflegegrad 3 Pflegegrad 4 Pflegegrad 5
Geldleistung ambulant 125 € 316 € 545 € 728 € 901 €
Sachleistung ambulant -- 689 € 1298 € 1612 € 1995 €
Leistungen stationär 125 € 770 € 1262 € 1775 € 2005 €

Wie sieht die Versorgung pflegebedürftiger Senioren in ländlichen Gebieten aus?

Schauen Sie sich mal die Jobanzeigen in den Zeitungen und im Netz an. Überall wird qualifiziertes Personal gesucht. In NRW ist es besonders problematisch am Niederrhein, in Ostwestfalen und im Sauerland. Vor kurzem warben Lüdenscheider Kliniken damit, dass man für Altenpflegepersonal Parkplätze zur Verfügung stelle. Auf dem Land böte sich als Lösung das Satellitenmodell an, um die Versorgung zu gewährleisten. Die Universität Witten/Herdecke arbeitet zurzeit daran, wie man auf dem Land solche Satellitenzentren aufbauen kann und welches speziell ausgebildete Pflegepersonal benötigt wird.

NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) setzt sich für eine Pflegekammer ein. Brauchen wir die tatsächlich?

Hermann Gröhe (CDU/Bundesgesundheitsminister, Anmerkung der Redaktion) und Karl-Josef Laumann haben viel Gutes für Pflegebedürftige angestoßen. Die von Laumann geforderte Pflegekammer für NRW ist längst überfällig. Die Ärzte sind gut verkammert, die Pfleger nicht. Die Vorteil liegen auf der Hand: Neben gesicherter regelmäßiger Fortbildung vor allem die Gewissheit, wie viele Pflegebedürftige es überhaupt gibt, wo sie leben. Wir erfahren dann endlich, wo die weißen Flecken sind. Wir wissen in NRW gar nichts.

An Altenheimen lässt die Bevölkerung oft kein gutes Haar. Warum?

Alte, pflegebedürftige und auch demente Menschen sollten so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden leben können. Unterstützt nicht nur von Angehörigen, die sich oft bis zur Erschöpfung einsetzen, sondern durch ein Netzwerk an Helfern - von Nachbarn bis hin zur Friseurin, die Hausbesuche macht. Wenn jemand Älteres, der im 3. Stock wohnt, einen Schlaganfall bekommt, dann kommt er sofort ins Altenheim. Die meisten wollen aber wieder nach Hause. Viele Menschen über 70 bekommen nach einem Schlaganfall keine Reha, die sie auf ein Leben Zuhause wieder vorbereiten könnte. Da sind die Schweizer weiter. In einer Studie konnten sie belegen, dass 80 Prozent, derjenigen, die einen Reha-Prozess durchlaufen haben, nach eineinhalb Jahren noch Zuhause leben konnten. Wenn in Dänemark jemand erstmals ins Altenheim kommt, darf drei Monate lang die Wohnung des Betroffenen nicht aufgelöst werden - und das wird steuerlich unterstützt.

Ist Gewalt ist auch in der Altenpflege ein Thema?

Der Fall des verurteilten niedersächsischen Patientenmörders Niels H. hat, so schlimm es auch ist, die Diskussion um Gewalt in der Pflege wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Professor Karl H. Beine, der den Lehrstuhl für Psychiatrie an unserer Uni leitet, hat sich mit solchen Tötungsdelikten auseinandergesetzt. Was fehlt, um solche Taten rechtzeitig zu unterbinden, ist die nötige Kontrolle durch dritte. Dafür benötigen wir mehr Personal. Letztlich spiegelt Pflegepersonal die Gesellschaft wider. Auch bei uns gibt es Mörder, Einbrecher etc. - so wie in jeder anderen Berufsgruppe auch.

Was raten Sie Bürgern, die Angehörigen pflegen?

Der Anteil der Frauen liegt bei 85 Prozent. Wer einen Angehörigen pflegt, bekommt oft die Zuspitzung nicht mit. Viele helfen dann, bis sie selbst Hilfe brauchen. Der Hausarzt erkennt die Not der Arbeit am Dauerlimit selten. Es sind eher Freunde, die darauf aufmerksam machen, dass jemand kaum noch Zeit für sie hat. Auch da ist die Schweiz wesentlich weiter. Senioren bekommen dort ab einem gewissen Alter einen Brief, der eine Pflegekraft ankündigt, die sich Zuhause umsieht. Ein präventiver Hausbesuch rechnet sich.

Die neuen Zauberwörter, die auch aus der Altenpflegemisere helfen sollen, lauten „Community Health Nurses“. Was ist das?

Community Health Nurses stammt aus Kanada. Das wollen wir auch in Deutschland etablieren. In Städten, aber auch ländlichen Regionen wird in Kanada die primäre Gesundheitsversorgung maßgeblich von speziell qualifizierten Pflegefachpersonen unterstützt. Das Besondere daran: Ein multiprofessionell zusammengesetztes Team bietet aufeinander bezogene, integrierte Versorgungsangebote. Alle arbeiten unter einem Dach: Ärzte, Therapeuten, Sozialarbeiter, Pflege. Wichtig sind Gesundheitsförderung und Prävention in der Kommune. Die Menschen in der Bewältigung des Alltags zu unterstützen – in jeder Lebenslage und Altersspanne – ist Kerngeschäft von Community Health Nurses. Vor dem Hintergrund der Versorgungsproblematik vor allem im ländlichen Raum bei steigendem Durchschnittsalter und der damit einhergehenden Zunahme des Versorgungsbedarfs durch chronische Krankheiten und Pflegebedürftigkeit wächst der Bedarf an neuen Versorgungsangeboten. Die Robert Bosch Stiftung hat einen Wettbewerb ausgeschrieben. Drei Hochschule sollen Community Health Nurses für Deutschland entwickeln. Die Universität Witten/Herdecke wird sich bewerben.

Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Alter