Bigge. Die Aktion „Schichtwechsel“ ist für Menschen mit Beeinträchtigungen ein Schritt in Richtung erster Arbeitsmarkt zu denken. Bilanz des Aktionstags
Was für ein spannender Tag! Der „Schichtwechsel“ zwischen Mitarbeitern der Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) und Beschäftigten aus unterschiedlichen Betrieben war ein voller Erfolg. Beide Seitenerlebten Arbeit und Teilhabe aus einer ganz neuen Perspektive. Eine Erfahrung mit spürbarem Mehrwert, da sind sich alle Beteiligten einig. Ein Blick ins Gesicht von WfbM-Mitarbeiterin und Schichtwechslerin Larissa L. indes zeigt mehr: Sie traut sich seit diesem Tag, in Richtung erster Arbeitsmarkt zu denken.
ARD Morgenmagazin drehte anlässlich des Schichtwechsels
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Doch von vorn: Schon morgens um 8 Uhr war im Sauer- und Lipper-Land so einiges anders als sonst: Während Lena S. im Abteiladen Olsberg ihren ersten TV-Dreh hatte (das ARD Morgenmagazin drehte anlässlich des Schichtwechsels), schwang Barbara L. den Kochlöffelin der Elisabeth Klinik. Andersherum machte sich Fort-Fun-Marketingmanager DijamantNeziraj an der Drehmaschine in den Bigger WfbM zu schaffen und Schüler der Graf-Bernhard-Realschule Lippstadt durften in der WfbM Lipperode fleißig montieren. Von der Elisabeth Klinik Bigge bis zum Fort Fun in Bestwig, von der Schule an der Ruhraue bis zur Olsberg GmbH. Insgesamt konnten 13 Beschäftigte der WfbM die Gelegenheit nutzen, einen Tag in einem anderen Betrieb zu arbeiten. So hatten auch die Heiztechnik-Firma Sommer+Liese, der Abteiladen Olsberg, sowie die Unternehmen Pollmeier und Goodrich Lighting Systems GmbH & Co. KG in Raum Lippstadt fleißige Unterstützung. Und bei Axo.Media lernte Marina S., wie ein neues Sauerland-Magazin entsteht.
„Über den Tag haben wir fast alle Schichtwechsler begleitet und an ihren Tausch-Arbeitsplätzen befragen sowie fotografieren können. Zwei von uns waren draußen unterwegs und eine hat am PC dann schnell alles zu Posts verarbeitet. Das war Team-Arbeit pur für die Medienabteilung. Es hat total Spaß gemacht, zumal so viele glückliche Gesichter zu sehen waren“, zieht Ulrike Becker ein Resümee für ihr Team. Das Ergebnis bei Facebook und Instagram waren jede Menge Likes für die Beiträge, die das Team der Unternehmenskommunikation und Öffentlichkeitsarbeit nahezu jede halbe Stunde von einem anderen Schichtwechsel postete.
Mission: Sichtbar machen
Ein Tag, eine Mission: Menschen mit Beeinträchtigungen in der Arbeitswelt sichtbar zumachen. Zu demonstrieren: „Ja, wir können zwar nicht alles an diesem Arbeitsplatz ausführen, aber doch sehr vieles.“ „Es gibt häufig Potenzial, auch wenn jemand nicht die 100 Prozent wie ein Mitarbeiter ohne Beeinträchtigung schaffen kann, gut das dafür Budget für Arbeit inclusive Lohnkostenzuschuss und Betreuungsleistungen zur Verfügung steht“, betont Susanne Schepp, Inklusionsassistentin der Werkstätten in Bigge und Lipperode. Sie wünscht sich das ganze Jahr über für möglichst viele WfbM-Beschäftigte in ihrer Einrichtung Erstkontakte und Schnuppertage auf dem ersten Arbeitsmarkt.
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Und wer weiß, was daraus wird? Larissa L. erlebte einen ihrer glücklichsten Tage im Berufsleben bei ihrem Rollentausch in der Schule an der Ruhraue. Selbst Kinder mitkörperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen beim Lernen oder in der Motorik zu fördern,das ist einfach ihr Ding. Fest steht: Ein weiteres Praktikum soll folgen. Und sie hat bereits herausgefunden, dass es auch eine Ausbildung gibt, die sie vielleicht schaffen könnte.
Schichtwechsler im Freizeitpark Fort Fun
Wahnsinnig stolz waren auch die Schichtwechsler im Freizeitpark Fort Fun, die bereits am Ende des Schichtwechseltages riesige Karussells zum Fahren brachten. Weitere Praktika möglich? Unbedingt, sagt das Parkteam, das von den Tausch-Mitarbeitern auch menschlichbegeistert war.
Doch gerade auch jene Menschen, die aufgrund ihrer zu großen Beeinträchtigung eben nicht im normalen Berufsalltag unterkommen können, brauchen die Struktur eines Arbeitstages.„Für sie gibt es bundesweit über 400 Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Denn hier passt sich die Tätigkeit dem individuellen Können an“, betont Janine Rottler, pädagogische Geschäftsführerin der Josefsheim gGmbH. „Menschen mit Behinderung finden es oft geradegut, wenn sie über den Arbeitstag auch immer wieder die gleichen Abläufe ausführen können. Sie brauchen diese Struktur, das gibt viel Sicherheit.“
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Die Schichtwechsler, die in den Werkstätten schnupperten, staunten nicht schlecht, was hier geschaffen wird. Zehn Mitarbeitende aus verschiedenen Betrieben lernten die beiden WfbM in Bigge und Lipperode und ihre Beschäftigten kennen. Ihre wichtigste Erkenntnis: „Wirklich für jeden wird hier eine Tätigkeit ganz entsprechend seiner Fähigkeiten gefunden, das ist toll.“ Mitunterwegs war am Schichtwechsel-Tag auch die Sozialwissenschaftlerin Anne Zulauf von der Justus-Liebig-Universität Gießen, die gleich einen ganzen Tag lang mit unterwegs war. Sie betont: „Ich bin begeistert, wie gut und innovativ die Werkstätten hier aufgestellt sind und agieren. Sie leisten tolle Arbeit!“ Sie weiß außerdem, dass sich Inklusion und Teilhabe für klassische Betriebe durchaus lohnt: „Bis zu 75 Prozent der Lohnkosten können Betriebe durch das Bundesprogramm ‘Budget für Arbeit’ zurückbekommen“, erklärt sie. „Leider wird dieses Angebot von den Unternehmen bisher nur sehr selten wahrgenommen. Dennoch bin ich fastsicher, dass der heutige Schichtwechsel eine Initialwirkung zur Verstetigung der Zusammenarbeit mit den teilnehmen Betrieben haben wird“, zeigt sich Zulauf zuversichtlich.
Schritt zu mehr gesellschaftlicher Anerkennung
Diese Zuversicht war den ganzen Schichtwechsel-Tag über spürbar. „Am Nachmittag, als alle Schichtwechsler noch einmal zusammenkamen, konnten wir viele strahlende Gesichter sehen“, freut sich Janine Rottler. Sie weiß: „Wir haben Begegnungen geschaffen und hoffentlich das ein oder andere Vorurteil ausräumen.“ Noch dazu habe man sich und die Arbeithervorragend präsentiert. „Ein Schritt zu mehr gesellschaftlicher Anerkennung, wie sie so dringend bei den Themen Inklusion und gesellschaftlicher Teilhabe von Menschen mit Behinderungen nötig ist. Wir haben heute erneut gezeigt, wie ernst wir den Auftrag nehmen, Menschen mit Behinderungen auf ihrem individuellen Weg zu begleiten“. Für Larissa L., die sich auch als Frauenbeauftragte in der Werkstatt engagiert, ist der Impuls für Mehr definitiv gesetzt: „Mit Kindern zu arbeiten, das ist echt mein Ding!“ Hier hat Larissa eine echte Berufung gefunden, die sie gern auch zum Beruf machen würde. Genau so muss es sein.
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