Kriegsgefangener

Vermisst seit NS-Zeit in Bredelar: Familie sucht verzweifelt

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Familie Eiserich aus Geseke beim Redaktionsbesuch der WP in Marsberg, von links; Anneliese Eiserich, Sohn Jan-Michael, Enkel Julius und Schwiegertochter Charlotte.

Familie Eiserich aus Geseke beim Redaktionsbesuch der WP in Marsberg, von links; Anneliese Eiserich, Sohn Jan-Michael, Enkel Julius und Schwiegertochter Charlotte.

Foto: Annette Dülme

Marsberg/Geseke.  Ein französischer Kriegsgefangener und ein junge Westheimerin verlieben sich mitten im 2. Weltkrieg. Von ihm fehlt jede Spur: Wer kann helfen?

Sie wissen eigentlich nichts von ihm, sind sich nicht mal sicher, ob er wirklich Michael Einhard geheißen hat. Es gibt keine Fotos mehr von ihm. Nur so viel: Er war wohl nicht sehr groß und dunkelhaarig. Michael Einhard war französischer Soldat und im zweiten Weltkrieg als Kriegsgefangener in Bredelar interniert. Er bändelte mit einer jungen Frau aus Westheim an. Martha Rosenkranz arbeitete im Lebensmittelgeschäft Hill in Bredelar während der Zeit. Die Liebe blieb nicht folgenlos. 1942 brachte sie einen Sohn zur Welt. Im Gefängnis.

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Die junge Frau wurde ob ihrer Liebesbeziehung zu dem französischen Kriegsgefangenen bei der Polizei verraten. Michael Einhard soll geflohen sein. Von ihm verlor sich jede Spur. „Wir wissen nicht einmal, ob er tatsächlich seine Flucht angetreten hat oder antreten konnte und wenn ja, ob er sie überhaupt überlebt hat und ob er jemals wieder in Frankreich angekommen ist.“

Fragen über Fragen

Fragen über Fragen und keine Antworten. Nach denen suchen 78 Jahre nach Kriegsende die Schwiegertochter von Martha Rosenkranz Anneliese Eiserich (75). Sie war 45 Jahre mit ihrem Sohn Detlev-Norbert Rosenkranz (später Eiserich) verheiratet. Zeitlebens wollte er nicht über seinen leiblichen Vater reden, sagt Anneliese Eiserich: „Mein Mann verweigerte jedes Gespräch über ihn.“

Als sich die beiden kennenlernte, 1968 im Mai, hatte er ihr nur erzählt, dass sein „richtiger“ Vater Ausländer und sein Vater nicht sein leiblicher sei. Ein anderes Mal hatte er gesagt: „Wenn ich dir jetzt von meiner Herkunft erzähle, willst du nichts mehr von mir wissen.“

Sie wollte es dennoch. 1972 heirateten sie kirchlich, zwei Jahre vorher standesamtlich. In der Zwischenzeit bauten sie ein Häuschen in Geseke. Sohn Jan-Michael ist heute 39 Jahre alt. In der Familie Rosenkranz-Eiserich wurde niemals über das Thema gesprochen. Fotos und Papiere wurden vernichtet. „Aber vielleicht kann sich ja jemand an Michael Einhard erinnern, hat ihm vielleicht bei der Flucht geholfen oder nicht“, sagt Anneliese Eiserich mit resoluter Stimme im Gespräch mit der WP.

Im Zweiten Weltkrieg gerieten Millionen Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft. Teils wurden sie in Lagern ermordet oder starben an Hunger und menschenunwürdigen Lebensbedingungen, teils wurden sie als Zwangsarbeiter eingesetzt, auch auf dem Land. Auch in Marsberg (s. Kasten). Sie arbeiteten etwa auf den Feldern bei der Ernte, in Sägewerken oder der Kupferhütte.. Nicht selten waren sie bald unentbehrlich - und ebenfalls nicht selten verliebte sich eine deutsche Frau in einen Kriegsgefangenen.

Wehrkraftzersetzung

Im NS-Staat war es illegal und lebensgefährlich, den Feind zu lieben. Schlimmer noch. Kinder mit ihm zu zeugen. Wer es doch tat, machte sich der „Wehrkraftzersetzung“ schuldig. Die Kriegsgefangenen mussten um ihr Leben fürchten und auch die Frauen gingen ein hohes Risiko ein. Ihnen drohte nicht nur soziale Ausgrenzung und Demütigung in ihren Dörfern oder Städten, sondern auch die Strafverfolgung durch die Nazis und Haft. Oder Schlimmeres.

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„Über den Aufruf in der Zeitung erhoffen wir uns vielleicht einige wichtige Hinweise“, sagt Charlotte Eiserich. Ihr Mann Jan-Michael nickt und schweigt. Charlotte Eiserich hatte vor Weihnachten in den sozialen Netzwerken einen ersten Aufruf gestartet. Und tatsächlich konnten auch Kontakte mit betagten Bredelarern hergestellt werden. „Einer konnte sich sogar genau an den französischen Kriegsgefangenen erinnern und daran, dass er Vater werden sollte. Aber der Name wollte ihm partout nicht einfallen.“

Da war sich allerdings einer der Brüder von Martha Rosenkranz sicher. Er habe ihr erzählt, so Anneliese Eiserich, dass seine Vorfahren Deutsche waren, die nach dem 1. Weltkrieg in Frankreich geblieben seien. Im Stadtarchiv in Marsberg waren die Eiserichs auch schon auf Spurensuche. Sämtliche Listen der Kriegsgefangenen im Stadtgebiet sind erhalten geblieben. Außer die aus Bredelar.

Einzig über den Bruder ihrer Schwiegermutter hatte Anneliese Eiserich nach deren Tod etwas über die Beziehung zu dem französischen Kriegsgefangenen erfahren. Nach den ersten vorsichtigen Fragen nach der Vergangenheit habe er fast gar nichts gesagt. Anneliese Eiserich ließ nicht locker. „Später kam es dann wie ein Wasserfall aus ihm herausgesprudelt.“

Im Gefängnis geboren

Martha Rosenkranz hatte 1941 im Lebensmittelgeschäft Hill in Bredelar gearbeitet. Sonntags besuchte sie immer ihre Familie in Westheim. In Bredelar lernte sie den französischen Kriegsgefangenen Michael Einhard kennen, der bei der Bäckerei Vollmer (nach anderen Aussagen Lebensmittel Nöckel) gearbeitet hat. Familie Vollmer musste eine Geldstrafe zahlen, weil er bei ihnen am Familientisch essen durfte.

Zwangssterilisation

Als Martha schwanger wurde, hatte sie ein Lehrmädchen bei der Polizei angezeigt. Sonntags abends wurde Martha, als sie vom Familienbesuch zurück nach Bredelar fahren wollte, am Bahnhof in Westheim verhaftet. Sie wurde in das Gefängnis Anrath-Willich gebracht. Dort brachte sie am 2. September 1942 ihr Kind Detlev-Norbert zur Welt. Wie ihr Bruder erzählte, wurde sie nach der Geburt zwangssterilisiert. Sie arbeitete in der Gefängnisbibliothek und konnte ihr Kind bei sich behalten.

Als Michael Einhard von Marthas Verhaftung erfuhr, soll er sich unter einen Zug geklemmt haben, um zurück nach Frankreich zu kommen. Anneliese Eiserich: „Wahrscheinlich war sein Ziel sein Heimatort, ein Vorort von Lyon, wo er als Bäcker und Konditor gearbeitet hat.

Nach zweieinhalb Jahren wurden Mutter und Sohn aus dem Gefängnis entlassen. Anneliese Eiserich: „Ein anderer Bruder war bei der Wehrmacht ein höheres Tier und hat wohl ein Gnadengesuch erstellt.“ Sohn Detlev kam in ein Kinderheim in Hörste. Martha arbeitete in der Nähe wieder bei Hill. Als Detlev eingeschult werden sollte, wurde er aus dem Heim entlassen. Martha Rosenkranz heiratete dann Heinrich Eiserich aus Geseke. Sie starb am 30. April 1985 mit nur etwas über 60 Jahren. Nach Schlaganfällen und Hirnembolie war sie halbseitig gelähmt.

Anneliese Eiserich: „Kurz bevor sie die Augen für immer schloss, hat sie ein einziges Mal gesagt: Detlevs Vater war immer gut zu mir. Er hat mir immer Blumen gebracht. Aber unser Vater war auch gut.“ Silvester 2017 verstarb auch Detlev-Norbert Eiserich. Anneliese Eiserich: „Solange er lebte, wollte er nicht, dass wir nach seinem Vater suchen.“

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