Siegerland. Die Stüchers wussten es eigentlich. Aber als die Diagnose Angelman-Syndrom für Mia kam, wurde klar: Ihr Leben würde ganz anders sein als erhofft.
In diesem Blog schreiben Lisa Mareile und Niclas Stücher über ihren Alltag – zwei Absätze weiter unten. Ihre Tochter Mia Cécilia (5) ist behindert, sie hat das Angelman-Syndrom, einen sehr seltenen Gendefekt. Lange hatten sich die Stüchers ein Kind gewünscht; als Mia da war, stellten sie irgendwann Entwicklungsverzögerungen fest. Mia hatte zum Beispiel Probleme, ihren Kopf zu heben. Die Stüchers gingen mit ihr zur Physiotherapie, trotzdem stellten sie keine Verbesserung fest. Auch mit der Lautsprache tat sich Mia schwer. Die Stüchers hatten einen Kinderarzt, der Mia gut kannte, sich sehr für die Familie einsetzte – als der Mediziner die Stelle wechselte, zogen die Stüchers sogar hinterher. Schließlich, nach einem Gentest, erhielt Mia Cécilia Stücher kurz vor ihrem dritten Geburtstag die Diagnose Angelman-Syndrom. „Wir merken jetzt: Vom Kopf her bleibt sie auf diesem Stand stehen. Sie wächst aber“, erklärt Niclas Stücher.
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Mia mag nicht gewickelt werden, Zähne putzen auch nicht, erzählt ihr Vater. „Wir kennen es nur so.“ Normalität, die viel herausfordernder ist als der Alltag anderer Eltern. „Man muss immer noch zehn Schritte weiterdenken“, sagt er. An Dinge, an die die allermeisten Eltern niemals einen Gedanken verschwenden müssen – auch, weil es mit der Inklusion an vielen Stellen dann doch nicht so weit her ist. Das Leben der Stüchers ist anders – und nur anders. Nicht besser oder schlechter, anders eben, aber am Ende ganz normal. Davon erzählen sie hier: Vom Alltag mit ihren beiden Kindern.
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Darüber weinen wir immer wieder – und wir erleben pure Freude. von Lisa Mareile Stücher
Die Diagnose kam einen Mittwochabend nach 20 Uhr. Der Genetiker rief uns sofort an, als das Ergebnis da war. Mein Mann ging ans Telefon und nahm es fast schweigend entgegen. Er brauchte es mir nicht zu sagen. Ich fragte sofort: „Es ist das Angelman-Syndrom, oder?“ Wir hatten direkt darauf untersuchen lassen, da alle Indizien dafür sprachen. Wir riefen unsere Eltern an und überbrachten emotionslos die Nachricht. Offenbar war der Schock zu tief. Ich weinte nicht. Nicht so, wie ich es erwartet hätte. Es fühlte sich komisch an. Unser ruhig schlafendes Kind war doch das gleiche wie vor 10 Minuten. Und doch fühlte es ich an wie ein anderes Leben. Ein neues Leben.
Ein Anruf und alles ist anders. Es war suspekt. Obwohl sich eigentlich nichts änderte. Unser Kind war das Gleiche. Wir waren die Gleichen. Es wäre nicht fair zu denken, Mia wäre dadurch eine andere Person oder weniger geliebt oder irgendetwas anderes. Aber es änderte sich doch etwas. Die Gewissheit war nun da, dass unser Leben doch anders aussehen würde als geplant.
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Die Träume waren geplatzt. Alle Träume. Vom unbeschwerten Urlaub über’m großen Teich, Ski fahren lernen, Quatsch labern und niffteln bei Spieleabenden. Dass wir einmal die jungen Herren aus dem Zimmer und dem Handy unserer Tochter verbannen und sie doch an einem besonderen Tag von Papa an den Altar geführt wird. Das war’s. Es wird nicht passieren.
Manchmal überkommt es einen noch. Diese Gewissheit. Da ist keine Reue. Einfach Traurigkeit. Traurig, dass wir all das mit ihr nicht in der Form erleben werden. Darüber weinen wir immer wieder. Oft bekommen wir Anerkennung, wie wir das alles machen. Fast schon Lob, wie stark wir sind. Dabei wird oft vergessen, dass wir es uns auch nicht ausgesucht haben. Und dass uns dieses Lob auch nicht wirklich gefällt. Niemand denkt beim Kinderwunsch oder in der Schwangerschaft, dass man doch bitte ein Kind mit Behinderung haben möchte. Ich kenne niemanden. Wir haben es ehrlicherweise auch nicht gedacht. Es ist wie es ist, sagt die Liebe.
Wir erleben dafür andere Dinge. Wir erleben pure Freude, wie sie reiner nicht sein könnte, wenn wir ihr Lachen sehen. Wir erleben echten Stolz, wenn wir einen neuen Entwicklungsschritt feiern und sehen, was sie alles bewerkstelligt bekommt. Wir spüren tiefste, innige Liebe, wenn sie uns umarmt und sie völlig außer sich ist, weil sie sich so über uns freut. Wir sehen ihr Leben; so übervoll mit bedingungsloser Liebe, tiefer, ehrlicher Freude, Stärke und Durchhaltevermögen. Ihr Leben ist ein Geschenk und erhellt unseres an jedem Tag. Ein Geschenk Gottes, welches wir voller Hingabe und Dankbarkeit annehmen.
Man sagt: „Hauptsache gesund.“ Doch das stimmt nicht. Hauptsache geliebt!
Was Inklusion wirklich ist: „Macht es uns bitte ein bisschen leichter!“ – von Lisa Mareile Stücher
Als Eltern eines Kindes mit Behinderung hat man mehr als einen Ordner im Schrank und mehr als einen Vollzeitjob, um sich um alles zu kümmern, was das Kind benötigt. Mittlerweile habe ich einen Ablagekorb in der Küche: mit allen laufenden Anfragen beim Sanitätshaus, Arztberichten, Stundennachweisen der Verhinderungspflege und Unterlagen der Krankenkasse. Griffparat. Ich bin in Elternzeit und mache Homeoffice. Zum Glück bin ich vom Fach…
Außerdem bin ich mehr als Ehefrau und Mama, mehr als Taxi und Putzfrau, mehr als Betreuerin und Köchin. Ich bin mehr als Sekretärin und Therapeutin. Ich bin auch Anwältin meiner Tochter. Wir stehen für sie in allen Bereichen ein. Ich informiere mich, suche, knüpfe Kontakte, um die neusten Hilfsmittel zu kennen und zu bekommen. Alles, was Mia weiterbringen könnte, recherchiere ich. Was die Kasse nicht zahlt, zahlen wir. Wir sind privilegiert, ausprobieren zu können und dafür Geld ausgeben zu dürfen.
Es ist doch unbegreiflich, dass ein Buggy für unser Kind (ohne weitere Pelotten oder Stützen – einfach nur ein Buggy bis 50 Kilo Traglast!) mehr als das Vier- bis Fünffache kosten soll! Natürlich müssen die Hilfsmittels allerlei Anforderungen standhalten, aber wie ist es zu rechtfertigen, dass Eltern, die auf Hilfsmittel angewiesen sind, diese oft nicht bewilligt bekommen und dann privat soviel tiefer in die Tasche greifen müssen? Wenn sie es denn überhaupt können! Es fühlt sich nicht fair an, sich zu all den Belastungen zusätzlich durch Bürokratien arbeiten zu müssen, von einem zuständigem Mitarbeiter zum nächsten durchgestellt zu werden, Zahlungen der Krankenkasse erst nach mehrfachem Anmahnen zu bekommen. Alles müssen wir uns erkämpfen. Wir müssen uns nicht nur um unser behindertes Kind kümmern, sondern auch noch durch diesen bürokratischen Dschungel irren. Das ist mir unbegreiflich.
Ich appelliere daran, dass sich das ändert. Inklusion ist so vieles! Es ist nicht nur, offen mit Behinderung umzugehen, es nicht als Schimpfwort, sondern als normales Wort zu sehen und zu benutzen. Ich kann sagen: „Mein Kind ist behindert“. Genauso wie ich sage: „Mein Kind ist nicht behindert“. Behindert sein ist normal. Nicht normal ist der Umgang damit. Der Schrei nach Inklusion wird lauter – und ich schreie mit!
Inklusion beginnt nicht am Spielplatz oder beim Einkaufen. Sie beginnt in unseren Herzen. Sie beginnt damit, betroffenen Familien das Leben zu erleichtern, bevor sie das Haus verlassen. Es beginnt bei den Anträgen, bei der Unterstützung der Krankenkassen, der Ämter. Es beginnt damit, nett zu sein. Empathie auszustrahlen. Sich anzunehmen und nicht weiterzuleiten. Mittel zur Verfügung zu stellen und den Eltern aktiv und praktisch Unterstützung anzubieten. Mit dem, was sie brauchen und nicht mit dem, was einem selbst gerade am besten in den Kram passt. Inklusion besteht darin, zu verstehen, nachvollziehen können. Nachzufragen und Dinge stehen zu lassen, anzunehmen. Aber auch Dinge auszusprechen und zu benennen. Anzupacken, eine Hand zu reichen oder eine Tür aufzuhalten. Rücksicht zu nehmen. Nicht auf dem Parkplatz für Menschen mit eingeschränktem Gehvermögen zu parken. Ein Lächeln, statt ein verachtendes Kopfschütteln oder Wegsehen, wenn man gerade in einer offenbar unangenehmen Situation steckt.
Es sind die kleinen Dinge, die uns Eltern das Leben leichter machen. Macht es uns bitte ein bisschen leichter. Lebt die Inklusion!
Grenzen der Belastbarkeit: Ist mehr Ruhe für uns schlechter für Mias Entwicklung?
Neues Jahr, neues Glück. Gute Vorsätze. Eigentlich sind wir nicht die Leute, die sich im Januar im Fitnessstudio anmelden und im Februar schon nicht mehr hingehen. Wir sind die Leute, die durchziehen was sie anfangen, komme was wolle. So habe ich auch bisher alle Therapien für Mia angefangen und durchgezogen. Inklusive durchgemachter Nächte, mit Fieber, stundenlang Autofahren oder Doppelbelastung mit Stillkind und Kleinkind. 4,5 Stunden täglich Therapie, 12 Tage lang. Natürlich schaffe ich das alles nur mit der Unterstützung unserer Familie. Ohne die geht gar nichts!
Aber dieses Jahr haben wir auch mal gute Vorsätze. Es geht nicht ums Fitnessstudio, aber sehr wohl um gesünder leben. Wir wollen mehr Familienzeit. Mehr Prime-Time statt nur Termine, Therapien und Stress. Wir wollen zusammen sein. Im Alltag Ruhe einbauen und entspannt und gelassen den Tag gestalten. Wir wollen Zeit verbringen und sie einfach vergehen lassen. Wir wollen uns fragen: „Was machen wir jetzt?“ und nicht sagen „Beeil dich – wir müssen los!“ Wir wissen: Das ist dieses Jahr das richtige für unsere Familie.
Trotzdem bin ich wieder in einem Dilemma. Innerlich zerrissen. Die Entscheidung für diese freie Zeit, für die Familie, fühlt sich an wie eine Entscheidung gegen Mia. Gegen ihre Therapie. Als ob ich ihre Weiterentwicklung für meine, unsere Ruhe opfere. Und tatsächlich hatte ich in den letzten fünf Jahren alles, nur keine Ruhe. Aber trotzdem, irgendwie fühlt es sich falsch an.
Herz und Kopf sind immer zwiegespalten. Ist es in Ordnung, wenn ich so entscheide? Wenn wir einen Gang zurückschalten? Ist es okay für ihre Entwicklung, wenn wir pausieren, ein bisschen weniger machen? Eine große Ecke in meinem Herz weiß aber auch, dass es richtig ist. Wir sind an der Grenze unserer Belastbarkeit. Eigentlich haben wir sie schon weit überschritten. Die Akkus sind leer und die Luft ist raus. Also ziehen wir unseren Vorsatz durch. Wie wir immer alles durchziehen. Und ich weiß, in meinem Kopf und in meinem Herzen: Es wird uns allen Mehrwert bringen! Auch wenn Mia vielleicht nicht so viel erreicht wie mit unserem „normalem“ Pensum. Gemeinsam entwickeln wir uns weiter. Als Familie. Als Einheit. Und das ist genauso gut.
Von kleinen Dingen, die riesengroß sind: Es ist wie ein Fest – von Lisa Mareile Stücher
Unsere Tochter war schon mit ihrer Geburt im U-Heft nie im Soll-Bereich der Perzentile. Wir hatten bei den ersten U-Untersuchungen schon gemerkt, dass sie eher klein, eher leicht und eher langsam in der Entwicklung ist. So weit, so gut. Sind ja nur Richtlinien. Durchschnitt. Und mal ehrlich, wer ist schon Durchschnitt? Beim ersten Kind sitzt man auch dermaßen auf der rosaroten Wolke… Man ist unerfahren und verlässt sich auf das Fachpersonal, die Hebamme, die Ärzte, die Freundinnen mit Kindern, die Omas; die Leute eben, die schon Erfahrung haben.
Mit der Zeit steigerte sich die Motorik nicht, immer noch fehlte die Sprache und vor allem wurden es in unserem Büro immer mehr Ordner mit Hilfsmitteln für Physiotherapie, Facharztberichten und Therapievorschlägen. Da beschlich mich doch das Gefühl, das wohl irgendetwas nicht stimmen könnte. Auch unser Kinderarzt wurde stutzig, als ich ihm sagte, dass Mia kein Wort sprechen kann. Nicht einmal brabbelt. Nach über 2,5 Jahren, bereits schwanger mit dem zweiten Kind, entschieden wir uns für einen Gentest. Ein gutes halbes Jahr später erfuhren wir die Diagnose Angelman-Syndrom. 1:15000. Wow. Wie besonders.
Mias Entwicklung ist immer noch langsam – sie wird auf dem Stand eines Kleinkindes stehen bleiben. Aber: Wir erleben all ihre Entwicklungsschritte so wahnsinnig deutlich. Es ist wie ein Fest. Wir Eltern sehen uns oft ungläubig an und wenn sich unsere Augen treffen, lesen wir die Gedanken des Anderen: „Hat sie das gerade echt geschafft?“ Unsere Augen funkeln dann vor Stolz. Sie sagt mittlerweile Mama und Papa. Sie kann die Schlösser unserer extra abgesicherten Treppen öffnen. Ohne hinsehen! Sie kann ihre erste super deutliche Gebärde! Sie kann aus einem Becher trinken! Sie kann springen! Sie ist einige Stufen frei gegangen! Ganz alleine ohne festhalten! Sie ist pfiffig und überrascht uns immer wieder.
Was viele Eltern als normal ansehen, sind für uns gigantische Meilensteine. Verbesserungen ihrer Entwicklung, motorisch wie geistig, sind eine Erleichterung unseres Alltags, weil wir zum Beispiel nicht mehr so viel tragen müssen wie in den ersten drei Jahren, in denen sie keinen Schritt gehen konnte. Oder dass sie selbstständig essen kann, egal wie klebrig sie und der Boden dann sind. Wie sagt man so schön: “Es sind die kleinen Dinge des Lebens.“ Und bei uns sind die kleinen Dinge eben riesengroß!
Die Angst vor der Angst: Es bringt mich an den Rand des Wahnsinns – von Lisa Mareile Stücher
Nach der Diagnose waren wir sehr gefasst. Wir sind in kein Loch gefallen, sondern haben die Situation und Mia so angenommen, wie sie ist. Das Beste draus gemacht. Therapien gesucht und durchgeführt, Unterstützungen vereinbart, für Assistenz für den Kindergarten gesorgt. Die Zähne zusammengebissen und durchgehalten. Die Lebensfreude unserer Mia hat uns immer wieder angesteckt und uns zum Durchhalten bewegt. Noch heute tun wir alles, was möglich ist, um Mia ein möglichst selbstständiges Leben zu ermöglichen.
Doch mit der Zeit – trotz all ihrer positiven Entwicklungen und kleinen und großen Meilensteinen – überkam mich immer mehr die Angst. Sie erlitt 2020 einen Tag vor Weihnachten einen heftigen, komplizierten Fieberkrampf. Dieses Ereignis mit den sechs Sanitätern im Wohnzimmer, die fast eine halbe Stunde brauchten, um sie aus dem Krampf zu holen, blieb uns nachhaltig in Erinnerung. Das Wissen, dass drei von vier Betroffenen Epilepsie haben, kreist seitdem aktueller denn je in unseren Köpfen. Wenn ein Infekt droht, Fieber steigt oder eine Rotznase kommt, klingeln in meinem Kopf sofort alle Sirenen. Es ist wie ein automatisierter Mechanismus, der kaum auszuschalten ist. Ich schlafe jede Nacht bei ihr, bis sie gesund ist. Und manchmal, da kommt die Angst auch einfach so, in anderen Nächten.
Es ist die Angst vor der Angst, dass es Mia doch trifft. Da liege ich in meinem Bett, starre auf die Kameraübertragung ihres Betts und lausche dem Babyphone. Ich kann nicht schlafen. Will nicht schlafen. Ich lausche jeder Drehung, jedem Atemzug von ihr. Ich habe Angst, etwas zu verpassen. Etwas nicht mitzubekommen. Sie wieder krampfend vorzufinden. Ich gehe in meinen Gedanken schon die nächsten Schritte durch: Notfallmedikament geben, 112 wählen, Tasche greifen, Windel reinwerfen, Kleidung, ihr Lieblingskuscheltier…
Mein Kopf raucht und mein Magen zieht sich zusammen. Mir ist kotzübel. Am Bildschirm sehe ich ein ruhig schlafendes Kind. Aber in meinem Kopf sieht es anders aus. Diese Angst ist anstrengend. Ermüdend. Sie raubt mir den Schlaf, bringt mich an den Rand des Wahnsinns und bestimmt nicht nur meine Nächte. Wie kann ich diese Angst bloß loswerden? Eine andere betroffene Mama sagte zu mir: „Wir sitzen einfach auf diesem Pulverfass und warten bis es explodiert.“ Ich könnte es nicht treffender ausdrücken. Und bei uns ist die Bombe hochgegangen.
Im September war wieder ein Großeinsatz, samt Arztanreise per Helikopter und zwei Anfahrten mit RTW ins Krankenhaus an einem Tag. Vier Fieberkrämpfe in 24 Stunden. Mia ging es richtig schlecht. Uns allen. Der Anblick unserer Tochter; erstarrt, merklich nicht atmend und erschlafft. Es war furchtbar. Solche Anfälle hatte ich noch nie gesehen. Nicht mal im Fernsehen. Nach einigen Tagen im Krankenhaus haben wir uns dann berappelt. Das EEG war in Ordnung. Also versuchten wir wieder dem Alltag nachzukommen und die Reste an „Positive Vibes“ wieder rauszukramen. Doch nur vier Wochen später ging es wieder los. Absenzen. Kurze Aussetzer, die immer häufiger wurden und Mias Hirn für Sekunden abschalteten. Sie fiel hin, erschrak, tat sich weh. Ich konnte keinen Zentimeter von ihr weichen. Teilweise konnte ich nicht einmal Verletzungen verhindern, obwohl ich direkt neben ihr stand.
Das EEG war im Vergleich ein Unterschied wie „Himmel und Erde“. Seitdem gibt’s nun die nächste Diagnose: Epilepsie. Wieder eine Woche Krankenhaus mit medikamentöser Einstellung. Und obwohl es für uns der nächste Tiefschlag war, ist es irgendwie auch erleichternd. Weil die Bombe geplatzt ist. Nun wissen wir, woran wir sind und wie wir Mia helfen können. Die Angst ist noch da. Aber sie ist kleiner geworden. Die Zuversicht wächst wieder. Die Nächte werden wieder besser. Und die Angst vor der Angst, schwindet langsam, aber sicher.
Für dieses Kind haben wir gebetet – und es nach Jahren bekommen. Von Lisa Mareile Stücher
Endlich können wir dieses Jahr abschließen! Was der Erholung dienen sollte, begann schon mit Krankheiten der Kinder, ging über eine Mutter-Kind-Kur, die mich der Psychiatrie näher als der Ruhe brachte, und zog sich durch mit Corona-Erkrankung, Magen-Darm, nicht endenden Fieberepisoden, Mittelohr-und Bindehautentzündungen, kleineren Unfällen und größeren Rettungswagen-Einsätzen, als uns lieb war, und endete mit einer weiteren Diagnose (Epilepsie) inklusive erneutem Krankenhausaufenthalt sowie noch mal Grippe für alle.
Zum Schluss freuen wir uns also nur auf die am Anfang des Jahres erhoffte Erholung und besinnliche und ruhige Feiertage. Was mich daran zurück bringt, darüber nachzudenken, was für ein Glück wir mit unseren beiden Kindern haben und was in diesem Jahr eben auch gut war. Ich bin nämlich der geborene Pessimist und sollte die positiven Ereignisse etwas öfter aufleuchten lassen… Der diesjährige Aufenthalt im Angelman-Zentrum München mit folgendem Urlaub brachte uns nämlich so viel weiter. Weniger die Untersuchungsergebnisse, mehr die Erkenntnis, dass wir als Familie so gut zusammen funktionieren und wie gesegnet wir mit unseren Kindern sind.
Die Männer erkundeten gemeinsam München und besuchten uns oft. Sie erlebten echte „Qualitytime“. Machten Papa-Sohn-Dinge und genossen die Tage. Wir Mädels sind im Klinikgarten mit dem Dreirad hoch und runter gefahren und haben den Ärzten und Schwestern wider Erwartung gezeigt, wie wahnsinnig entspannt ein kleines Angelmanmädchen sein kann.
Sie war so offen, hat alle Untersuchungen geduldig und ruhig, ohne Schlechtes zu erwarten, mitgemacht. Sie hat die Ärzte begeistert mit ihrem Entwicklungsstand und sogar überraschend gut geschlafen in dieser fremden Umgebung. Es war komischerweise fast wie Urlaub… Wir waren entspannt und haben das Beste aus der getrennten Zeit, den langen Tagen und den vielen Untersuchungen und Terminen gemacht.
Auch die Krankenhausaufenthalte zuhause, die erstmal mit Schock und Angst begannen, wendeten sich immer wieder positiv. Es war zum einen die frühere Physiotherapeutin von Mia, die im Flur stand, als ich um Hilfe schreien musste, und eine alte Bekannte, die diensthabende Schwester war, als wir aufgelöst und voller Sorge mit Anfällen im Krankenhaus waren. Wir erlebten EEGs, bei denen Mia komplett schlafen konnte und die somit viel besser auszuwerten waren. Normalerweise schläft Mia nie dabei, und sie allein schon für die Untersuchung so lange still zu halten, grenzt für mich immer an Hochleistungssport. Meine Muskeln sind anschließend alle gezerrt und ich bin schweißnass. Aber immer wieder sah ich in solchen kleinen, für uns großen Situationen, dass wir gesegnet sind.
Insgesamt war es ein heftiges Jahr. Aber auch ein Jahr, das uns vier zusammengeschweißt und uns gelehrt hat, was für ein großartiges Mädchen und einen tollen Jungen wir haben und was wir alles gemeinsam schaffen können! Wir haben damals lange darauf gewartet, schwanger zu werden. Insgeheim dachte ich schon, es gibt womöglich nichts. Doch dann klappte es doch. Welch ein Glück! Oder Zufall? Nein, Plan Gottes. Die Schwangerschaft mit Mia verlief so weit gut und wir haben uns sehr auf eine kleine Prinzessin gefreut. „For this child we have prayed” hängt in Mias Zimmer. Ich sah diesen Print und musste ihn einfach dort aufhängen. Wir haben für ein Kind gebetet. Und nach Jahren haben wir es bekommen.
Wenig überraschend kam nach ewigem Rätselraten die geahnte Diagnose. Und irgendwie war’s doch krass. Man muss sich das mal überlegen. 1:15.000! Das bedeutet, dass eines von 15.000 Kindern den Gendefekt Angelman-Syndrom hat. EINS! Und dieses eine Kind ist unseres! Man sagt, man kriegt, was man verdient. Ob das nun Strafe oder Gewinn ist, bleibt wohl jedem selbst überlassen zu entscheiden. Wir können nur sagen: Wir haben vielleicht bekommen, was wir verdienen. Keine Ahnung. So oder so, es ist uns ein Geschenk. Ein Geschenk des Himmels. Es ist nicht immer leicht. Dieses Jahr war mehr als anstrengend und der Vorsatz fürs kommende bleibt gleich. Erholung. Dennoch wissen wir, wir durchleben das alles nicht allein. Denn „for this child we have prayed”!
Auf dem Weihnachtsmarkt: Happy Inklusion und frohe Weihnachten – von Lisa Mareile Stücher
Auf dem Weihnachtsmarkt wollen die Kinder Karussell fahren. Die Tickets sind gekauft, die Kinder haben sich ihr Fahrgeschäft ausgesucht, ich steige ebenfalls dazu. Dann: „Sie dürfen nicht mitfahren!“ Dass meine Tochter (5) aber nicht allein fahren kann, ist unerheblich. Erwachsene dürfen nicht mitfahren.
Mein Sohn ist noch nicht einmal 3 und könnte auch jederzeit aus dem Ding aussteigen. Das hinterfragt niemand. Das ist erlaubt. Aber die Mutter eines behinderten Kindes, das Gefahren nicht erkennt, auf einem nicht mal halb besetzten Karussell? Nee, das geht nicht. Die Kleine muss allein fahren – oder gar nicht. Also gar nicht. Ich entscheide, beide Kinder wieder aus dem Karussell zu zerren.
Bereits beim lautstarken Gespräch mit dem Fahrkartenverkäufer über „Last Christmas“ hinweg spürte ich die fragenden Blicke der anderen Eltern. Die Fragezeichen in ihren Augen werden immer größer, als ich versuche, meine vehement quakende Tochter aus dem Karussell zu bugsieren – sie versteht nicht, kann gar nicht verstehen, was los ist; wehrt sich, gleitet mir beinahe durch die Hände, bevor ich sie endlich in den Kinderwagen gewuchtet bekomme. Ich kann mir vorstellen, was die anderen Eltern denken: „Was macht die Mutter da mit ihrem Kind?“, „Was ist hier los?“ und „Warum ist das Kind so schlecht erzogen?“. Ich höre den Fahrkartenverkäufer rufen: „Es liegt nicht dran, dass ich was gegen Behinderte hab!“ Ja, das ist ja gut. Dann wissen es jetzt alle. Happy Inklusion und frohe Weihnachten.
Eine Mutter erzählt: Unser Leben mit einem behinderten und einem gesunden Kind – von Lisa Mareile Stücher
Ich sitze hier und gewöhne meinen kleinen Sohn in den Kindergarten ein. Es ist laut, aber ich bin weit ab und kann meinen Gedanken lauschen. Bei unserer Großen ist alles so anders. Ich war drei Tage dabei, dann war sie eingewöhnt. Sie hatte keine Probleme mit der Trennung – dafür aber ich. Sie loszulassen, so unselbstständig wie sie ist, sie in fremde Hände zu geben... Es fällt mir schwer. Noch immer.
Mein Sohn ist trocken. Er spricht wie ein Wasserfall. Benennt laut und deutlich seine Wünsche und fordert sie auch vehement ein. Er ist selbstständig, zieht sich an, isst und trinkt allein und räumt auch alles wieder weg. Ich traue ihm viel zu. Manchmal sicherlich zu viel.
Es ist dieser Unterschied, der unser Leben in zwei Welten teilt. Unsere Tochter Mia Cécilia ist 5 Jahre alt, sie hat das Angelman-Syndrom. Dieser Gendefekt geht mit einer stark geistigen Behinderung einher, zudem gehört starke Entwicklungsverzögerung in allen Bereichen – und Epilepsie – dazu. Sie kann nicht sprechen. Unser Sohn Simeon Bennet ist fast 3. Eine flippige Quasselstrippe, und genauso viel Pfeffer im Bobbes wie seine Schwester. Beide Kinder sind so unterschiedlich. Doch die Tatsache, dass wir ein behindertes und ein gesundes Kind haben, durchschneidet unseren Alltag. Zwei Leben eben.
Wir feiern Meilensteine unterschiedlich. Wir beurteilen Situationen anders. Schimpfen anders. Wir vergleichen wenig. Wir reflektieren viel und optimieren alles, was geht, zu jeder Zeit. Wir versuchen, allem und allen gerecht zu werden und auch zu den Kindern in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht zu sein. Ich scanne Räume, Situationen, Menschen und sehe innerlich eine Warnleuchte schrillend blinken, wenn Gefahr droht, mögliche Unfälle zustande kommen können oder etwas Unangenehmes passieren könnte. Alles schon vorgekommen. Ich bin im Dauer-Stand-By; hin und her gerissen zwischen diesen zwei Welten, in denen wir leben.
Es sind die Kleinigkeiten, die uns alles durch zwei Brillen betrachten lassen. Die Meilensteine, die Perzentile im U-Heft, der Spielplatzbesuch, der Brunch mit Freunden, das Ausgehen als Paar. Auf der einen Seite mit unserem Sohn alles kein Problem. Er kann meinen Anweisungen folgen, mit mir sprechen, selbst laufen und benötigt keine Führung. Ich kann ihn auch mal loslassen. Auch mit meinem Herz.
Auf der anderen Seite ist das leider mit unserer Tochter nicht oder nur unter sehr erschwerten Bedingungen oder mit viel Hilfe möglich. Man braucht für alles mehr Augen, mehr Hände und mehr Aufmerksamkeit. Eine ständige 1:1-Betreuung. Es ist ein eingeschränktes Leben. Wie das Leben unserer Tochter eben auch ist. Und doch erfüllt dieser anstrengende Alltag mein Herz. Unser Leben mit einem behindertem und einem gesunden Kind.
Hintergrund: Das Angelman-Syndrom
Geistige und körperliche Einschränkungen, Störungen der Bewegungs- und der Sprachentwicklung sowie des Verhaltens sind bei Erkrankungen wie dem Angelman-Syndrom Folgen einer Veränderung der Chromosomen. Viele seltene Erkrankungen wurden nach ihren Entdeckern benannt: Der englische Kinderarzt Harry Angelman beschrieb das Syndrom 1965 erstmals, zunächst aufgrund des auffälligen Bewegungsmusters und des häufigen Lachens der Kinder als „Happy-Puppet-Syndrom“ („Glückliche Puppe“, Red.). Das Angelman-Syndrom geht oft einher mit Entwicklungsverzögerungen, kognitiven Behinderungen, einer stark reduzierten Sprachentwicklung und überdurchschnittlicher Fröhlichkeit, die oft unbegründet wirkt, etwa weil sie auch bei Aufregung und Stress auftritt.
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